Pflegegrad - Begutachtung per Telefon birgt Gefahren
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Pflegebedürftige Personen werden per Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) in einen Pflegegrad eingestuft. Diese Einstufung dient im Wesentlichen dazu, den Pflegeaufwand für Angehörige, Pflegedienste oder Pflegeeinrichtungen zu definieren. Für die Begutachtung und anschließende Bewertung, sind Standards definiert, die sich im Wesentlichen an der Pflegesituation und den damit verbundenen Aufwänden, orientieren. Allerdings gibt es viele Kriterien, deren Eindeutigkeit in der Interpretation der begutachtenden Person liegen.
Eines dieser Faktoren ist Mobilität, aber insbesondere die Form der Selbstständigkeit einer pflegebedürftigen Person. Gerade der Mobilitätsfaktor führt oft zu Falscheinschätzungen. Personen, die noch eine gewisse Form der Mobilität besitzen, werden nicht selten falsch bewertet, da viele Gutachterinnen und Gutachter sich darauf fixiert haben, dass mit den höheren Pflegegraden eine Bettlägerigkeit vorliegen muss. Dabei hat die Praxis durchaus gezeigt, dass der Mobilitätsfaktor nicht maßgeblich für den Pflegegrad sein sollte, denn Menschen mit hohem Pflegebedarf können durchaus eine gewisse Mobilität aufweisen, die beispielsweise durch Assistenzkräfte erweitert wird.
Das Pflegeunterstützungs- und Entlastungsgesetz (PUEG) will die Möglichkeit der telefonischen Begutachtung erweitern. Zwar entlastet diese Möglichkeit die zu begutachtende Stelle, also die medizinischen Dienste der Krankenkassen, aber damit erhöht sich die Gefahr der Fehleinschätzung. Die Vorsitzende des SoVD-Landesverband Berlin Brandenburg (SoVD-BB), Frau Ursula Engelen-Kefer betonte unserer Redaktion gegenüber: "Mangelnde Mobilität im Sinne der Pflegebedürftigkeit kann bereits durch die verschiedensten Einschränkungen der Bewegungsfähigkeit gegeben sein- .Beispielsweise durch schmerzhafte Arthrose in den Finger- oder noch schlimmer in den Schultergelenken. Dies nur als eines von vielen Beispielen. Unverzichtbar hat sich in der Praxis der Pflegebegutachtungen in Hausbesuchen erwiesen, eine weitere sachverständige Person z.B. von Pflegestützpunkten mit dabei zu haben. Damit können unberechtigte Versuche der begutachtenden Stellen (Medizinischen Dienste) verhindert werden, die Einschränkungen der Betroffenen im täglichen Leben zu negieren, indem hohe Hürden wie die Bettlägerigkeit aufgebaut werden."
Der SoVD-BB macht darauf aufmerksam, dass die Pflegebegutachtung per Telefon, kein Freibrief sein darf: „Die nach dem Pflegeunterstützungs- und -Entlastungsgesetz (PUEG) mögliche Pflegebegutachtung durch strukturierte telefonische Interviews kann immer nur Ergänzung sein, aber keinesfalls Ersatz für den Regelfall der Begutachtung im Wohnumfeld der Betroffenen“, mahnt die SoVD-Landesvorsitzende Ursula Engelen-Kefer. Sie ist gleichzeitig Mitglied im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes Bund, der die Richtlinien zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit verantwortet und gerade deren Novellierung vorgenommen hat – sie sind seit dem 18. November in Kraft. „Diese dürfen nicht als Freibrief für die weitere Flexibilisierung der Pflegebegutachtung missbraucht werden“, so Engelen-Kefer.
Der SoVD verschließt sich nicht der Notwendigkeit einer Anpassung der Begutachtungsverfahren bei den dramatisch steigenden Fällen von Pflegebedürftigkeit und entsprechend den Anträgen auf Pflegebegutachtung bei den Medizinischen Diensten in den Bundesländern. Bei über fünf Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland ist die Anzahl der Anträge auf Begutachtung für die Feststellung eines Pflegegrades von 1,8 Millionen 2016 auf 2,6 Millionen 2022 und allein in den ersten beiden Monaten dieses Jahres um 20 Prozent angestiegen. Zusätzlich verzögert der Mangel an Fachkräften eine sachverständige Begutachtung im häuslichen Wohnumfeld. Während der Corona-Pandemie sind Erfahrungen mit Telefoninterviews für die Pflegebegutachtung erfolgt, vor allem um Infektionsgefahren bei häuslicher Begutachtung zu vermeiden. Dies soll jetzt unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. bei Höherstufung oder Wiederholungsbegutachtung) fortgeführt werden.
„Als SoVD haben wir uns immer dafür eingesetzt, dass es grundsätzlich bei Begutachtungsverfahren im häuslichen Umfeld bleiben soll“, stellt Engelen-Kefer fest. „Allerdings werden auch wir uns Begutachtungen durch Telefoninterviews nicht verweigern, wenn sie strukturiert verlaufen, von erfahrenen Fachkräften durchgeführt werden und nur in engen Grenzen sowie nach dem ausdrücklichen Wunsch bzw. Einverständnis der Betroffenen durchgeführt werden.“ Dies hat der SoVD auch bei seinen Stellungnahmen zur Neufassung der diesbezüglichen Richtlinien des Medizinischen Dienstes eingebracht. „Wir werden daher im weiteren Verlauf vor allem über unsere Sozialberatung und unsere Sozialrechtsvertretung darauf achten, dass diese Bedingungen auch tatsächlich eingehalten werden“, so Engelen-Kefer. Schließlich geht es dabei um die Einstufung des jeweiligen Pflegegrades und damit um die Leistungen aus der gesetzlichen Pflegeversicherung. „Wir werden nicht tatenlos zusehen, dass Pflegebedürftigkeit für die Betroffenen und ihre Angehörigen häufig mit Armut auch aufgrund zu langwieriger oder unzureichender Begutachtungsverfahren verbunden ist“, stellt die SoVD-Landesvorsitzende klar.
Autor: kk / © EU-Schwerbehinderung
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