Massive Finanzierungslücken beim Vorstoß zur Pflegereform
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Das Kabinett hat heute die Pflegereform auf den Weg gebracht. Pflegekräfte sollen in Zukunft bessere Löhne und Arbeitsbedingungen bekommen. Danach sieht die Reform ab 1. September 2022 eine Verpflichtung zur Zahlung von Tariflöhnen für alle Pflegeeinrichtungen vor, die Leistungen mit der Pflegeversicherung abrechnen. Zudem sollen auch kirchenarbeitsrechtliche Regelungen anerkannt werden. Die Bezahlung sollen den Einrichten durch die Pflegekassen nach Tarif vollständig refinanziert werden.
Der Beitragssatz ab Januar 2022 zu Pflegeversicherung für Kinderlose soll um 0,1 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent erhöht werden. Laut dem Gesetzentwurf soll der Beitragssatz für Eltern bei 3,05 Prozent stabil bleiben.
Nach den Angaben des Arbeitsministeriums werden etwa nur die Hälfte der 1,2 Millionen Pflegekräfte derzeit nach Tarif bezahlt. Dabei liegt ihr Stundenlohn im Durchschnitt zwei Euro unter Tariflohn. Nach früheren Angaben von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) könnte durch die geplante Reform eine Lohnsteigerung von bis zu 300 Euro im Monat möglich seien.
Der Gesetzentwurf, der im Juni im Bundestag beschlossen werden soll, sieht vor das für die Deckung der Kosten der Bund einen Steuerzuschuss an die Pflegeversicherung von 5,1 Milliarden Euro zahlt. Nach den Plänen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) soll der Eigenanteil bei den Pflegekosten im ersten Jahr sich um 5 Prozent reduzieren, im zweiten Jahr im Heim um 25 Prozent, im dritten Jahr um 50 Prozent und ab dem vierten Jahr dauerhaft um 75 Prozent. Von den Entlastungen sind jedoch nicht die sonstige Bestandteile des Eigenanteils betroffen. So kommen für Heimbewohner noch Kosten für Unterkunft sogenannte „Hotelkosten“, Verpflegung und Investitionen dazu. Dabei ist der rein pflegebedingte Eigenanteil zuletzt auf 786 Euro bundesweit im Schnitt pro Monat gestiegen.
Kritik an Pflegereform:
Der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) begrüßt, dass die Koalition die Pflegereform noch vor Ablauf der Legislaturperiode angeht. Es fehlt aber ein nachhaltiges Finanzierungskonzept. Dass Pflegekräfte künftig besser bezahlt und Pflegebedürftige bei den stationären Eigenanteilen entlastet werden sollen, ist wichtig und richtig. Der geplante Steuerzuschuss von einer Milliarde Euro und eine Beitragserhöhung für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte bei der sozialen Pflegeversicherung (SPV) reichen zur Gegenfinanzierung der Mehrkosten jedoch bei weitem nicht aus. Der vdek schätzt allein die Mehrkosten für die geplante Bezuschussung der Eigenanteile auf mindestens 2,5 Milliarden Euro.
Finanzierung der Pflege muss langfristig gesichert werden
„Wir brauchen eine Rundum-Reform der Pflegeversicherung, die die Finanzierung der Pflege langfristig sichert und Pflegebedürftige spürbar entlastet“, sagte Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbandes der Ersatzkassen e. V. (vdek). „Dafür ist ein dauerhaft höherer Steuerzuschuss für die Pflegeversicherung und die verbindliche Übernahme der Investitionskosten der Pflegeeinrichtungen durch die Bundesländer unabdingbar.“ Auch fehle in der Einigung die ursprünglich angedachte Übernahme der Beiträge pflegender Angehöriger für die Rentenversicherung. Für diese versicherungsfremde Leistung brauche es eine Refinanzierung durch Bundesmittel.
Beteiligung der privaten Pflegeversicherung unerlässlich
Zudem müsse sich die private Pflegeversicherung (PPV) endlich am gemeinsamen Finanzausgleich mit der SPV beteiligen. Dies wäre solidarisch, da die PPV im Vergleich zur SPV vor allem einkommensstarke Personen mit guten Risiken (geringere Pflegewahrscheinlichkeit) versichere. Der Finanzausgleich könne die SPV um bis zu zwei Milliarden Euro jährlich entlasten.
Zum Kabinettsbeschluss zur Pflegereform erklärt Kordula Schulz-Asche (Grünen), Sprecherin für Alten- und Pflegepolitik:
Der Reformbedarf der Pflegeversicherung hat sich in den zurückliegenden Jahren weiter angehäuft und lastet schwer auf den Schultern der Pflegebedürftigen und deren Familien in diesem Land. Was die jetzige Bundesregierung als Änderungsanträge zu einem Aller-Welt-Gesetz vorlegt, ist keine Pflegereform und lässt die Schuldenuhr bei den pflegebedürftigen Menschen immer schneller ticken. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass die Bundesregierung nicht in der Lage ist, die Probleme in der Pflege zu lösen, sondern ihre Versäumnisse die künftige Bundesregierung vor eine horrende Herausforderung gleich zu Beginn der neuen Legislaturperiode stellen wird.
Mit unserem Konzept der doppelten Pflegegarantie haben wir einen pragmatischen Lösungsvorschlag unterbreitet, der auf seine unmittelbare Umsetzung wartet. Wir wollen die Eigenanteile sofort senken und dauerhaft deckeln, um die pflegebedürftigen Menschen und ihre Familien zu entlasten.
Gleichzeitig machen wir uns dafür stark, dass die Länder ihrer Aufgabe der Investitionskostenförderung nachkommen können und die Kommunen endlich die Möglichkeit erhalten, die pflegerische Infrastruktur vor Ort zu stärken. Unser Ziel ist es, dass alle Menschen die Pflege bekommen, die sie brauchen.
Zum Kabinettsbeschluss für Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen für Reformschritte in der Pflege sagte Anja Piel, DGB-Vorstandsmitglied, am Mittwoch in Berlin:
"Für seine Trippelschritte statt einer echten Pflegereform lobt Spahn sich selbst nun über den Klee und findet, man solle bei der Pflege ‚jetzt nicht überdrehen‘. Solche Ansagen müssen in den Ohren der hart arbeitenden Beschäftigten klingen wie Hohn. Für sie ist das Gegenteil wichtig: Jetzt muss voll aufgedreht werden, damit sich endlich etwas verbessert für Pflegebedürftige und Personal. Es ist eben keine große Reform, sondern nur der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem sich Spahn um fünf vor Zwölf über die Bundestagswahl retten will – damit ist aber niemandem wirklich geholfen.
Die vorgesehene Kostenerstattung von Pflegeleistungen bei Tarifbindung bringt den meisten Beschäftigten nichts, solange nicht bundesweit ein guter allgemeinverbindlicher Tarifvertrag gilt. Eine Tarifbindung ohne diesen Tarifvertrag ist aber ein zahnloser Tiger und zementiert allenfalls das große Lohngefälle zwischen Ost und West, Süd und Nord. Auch ein Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro und der höhere Kinderlosenbeitrag lösen die Probleme nicht; das Armutsrisiko bei Pflegebedürftigkeit bleibt und es gibt keine Garantie, dass Pflegebeschäftigte bundesweit wirklich mehr Geld erhalten. Spahn hat die Chance für eine echte Reform verspielt und sein Versprechen gebrochen. Die Pflegenden aber haben mehr verdient. Jetzt muss die nächste Bundesregierung eine Pflegreform anstoßen, die diesen Namen auch verdient: Die solidarische Pflegebürgervollversicherung muss kommen."
Autor: md / © EU-Schwerbehinderung