Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht
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Kinder- und Jugendarmut bleibt ein ungelöstes Problem in Deutschland. Mehr als jedes fünfte Kind und jede:r vierte junge Erwachsene ist von Armut bedroht. In absoluten Zahlen bedeutet das: Knapp 2,9 Millionen Kinder und Jugendliche sowie 1,55 Millionen junge Erwachsene im Alter von 18 bis 25 Jahren galten 2021 als armutsgefährdet. Das geht aus dem neuen Factsheet „Kinder- und Jugendarmut in Deutschland“ der Bertelsmann Stiftung hervor. „Wer als junger Mensch in Armut aufwächst, leidet täglich unter Mangel, Verzicht und Scham und hat zugleich deutlich schlechtere Zukunftsaussichten. Das ist sowohl für die Betroffenen selbst als auch für die Gesellschaft als Ganzes untragbar. Die derzeitigen Krisen und Preissteigerungen verschärfen das Problem.
Daher muss die Bundesregierung die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kindergrundsicherung jetzt schnellstmöglich und im benötigten Umfang beschließen“, sagt Anette Stein, Director Bildung und Next Generation bei der Bertelsmann Stiftung. Vertiefende Erkenntnisse zur Armutsgefährdung liefern die amtlichen Daten zu Kindern und Jugendlichen, die Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II erhalten. Demnach lebten im Sommer 2022 rund 1,9 Millionen junge Menschen unter 18 Jahren in Haushalten, die Sozialleistungen beziehen. Die Quote von Kindern und Jugendlichen im SGB II-Bezug betrug in Westdeutschland 13,4 Prozent und in Ostdeutschland 16 Prozent. Ein Blick auf die kommunale Ebene zeigt gravierende Unterschiede: Die Spannbreite lag zwischen 3 Prozent im bayerischen Roth und 42 Prozent in Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Sowohl die Anzahl als auch der Anteil von Kindern in SGB II-Haushalten sind erstmals seit fünf Jahren deutlich gestiegen.
Die Zunahme ist vor allem auf die aus der Ukraine geflüchteten Kinder und Jugendlichen zurückzuführen. Diese haben gemäß der UN-Kinderrechtskonvention allerdings einen ebenso großen Anspruch auf gutes Aufwachsen und Teilhabe an der Gesellschaft. Überdurchschnittlich von Armut betroffen sind junge Menschen in alleinerziehenden Familien sowie in Familien mit drei und mehr Kindern. Die in diesen Fällen sehr aufwändige Sorge- und Betreuungsverantwortung macht es den Eltern oftmals unmöglich, einer umfänglichen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Zudem wirken sich hier fehlende Angebote zur Kinderbetreuung besonders negativ aus. Das größte Armutsrisiko haben Kinder in Mehrkindfamilien mit einem alleinerziehenden Elternteil (86 Prozent).
Junge Erwachsene weisen höchstes Armutsrisiko aller Altersgruppen auf Auch viele junge Erwachsene sind mit Armut konfrontiert. Laut Factsheet weisen 18- bis 25- Jährige mit 25,5 Prozent sogar das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen auf. Frauen sind dabei stärker betroffen als Männer, junge Menschen in Ostdeutschland häufiger als die in Westdeutschland. SGB II-Leistungen beziehen allerdings nur 7 Prozent dieser Altersgruppe, was auf den ersten Blick überrascht. Das liegt hauptsächlich daran, dass junge Erwachsene für gewöhnlich eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren und viele zum ersten Mal in eine eigene Wohnung ziehen. Hier greifen andere sozialstaatliche Maßnahmen, wie BAföG oder Wohngeld. „Die hohe Armutsbetroffenheit junger Erwachsener weist jedoch darauf hin, dass die verschiedenen Systeme nicht gut zusammenwirken. Ohne Unterstützung durch ihre Eltern wäre es vielen nicht möglich, ihre Existenz zu sichern. Damit hängen die Chancen junger Menschen weiterhin zu stark vom Elternhaus ab“, mahnt Stein.
Kindergrundsicherung wirksam gestalten
Aus Sicht der Bertelsmann Stiftung unterstreichen die Daten die Notwendigkeit, die Bekämpfung der Kinder- und Jugendarmut zur politischen Priorität zu machen. Die angekündigte Kindergrundsicherung wäre dafür ein zentrales Instrument. Doch diese müsse laut Stein so gestaltet sein, dass sie Armut wirksam vermeidet und sich an den tatsächlichen Bedarfen junger Menschen für gutes Aufwachsen, Bildung und Teilhabe orientiert. Die Kindergrundsicherung sollte ihnen eine weitgehend normale Kindheit und Jugend ermöglichen. Dazu ist es erforderlich, junge Menschen zu beteiligen und sie regelmäßig zu ihren Bedarfen zu befragen. An der Stellschraube Kindergeld zu drehen, helfe laut Stein hingegen nicht weiter, im Gegenteil: „Eine Erhöhung des Kindergeldes ist teuer, vermeidet aber keine Armut, denn es kommt bei Familien im SGBII-Bezug nicht an. Die Kindergrundsicherung muss die Verteilung mit der Gießkanne beenden und gezielt denjenigen helfen, die besonders darauf angewiesen sind.“ Um die Lage speziell der jungen Erwachsenen zu verbessern, sind eine – auch von der Bertelsmann Stiftung empfohlene – Ausbildungsgarantie sowie eine BAföG-Reform unerlässlich. Beide Vorhaben sind ebenfalls im Koalitionsvertrag angekündigt. Zudem ist es wichtig, diese ergänzenden Instrumente mit der Kindergrundsicherung zu einem Leistungspaket zu verzahnen, das Kinder- und Jugendarmut wirksam bekämpft.
Dazu erklärt VdK-Präsidentin Verena Bentele:
„Es ist eine Katastrophe für unseren Sozialstaat, dass mehr als jedes fünfte Kind von Armut betroffen oder gefährdet ist. Die Zahlen der Bertelsmann Stiftung sind alarmierend. Es darf nicht sein, dass Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland morgens ohne Pausenbrot in die Schule müssen oder nicht an Klassenfahrten teilnehmen können, weil es zu Hause am Geld fehlt.
Es gibt eine lange Liste an familienpolitischen Leistungen, die Kinder finanziell absichern sollen, aber die Armut nicht wirksam verhindern. Für uns als VdK ist daher klar: Wir brauchen einen Neustart im Kampf gegen die Kinderarmut. Ein weiteres Rumdoktern am bisherigen System der Familienförderung bringt nichts. Die wichtigsten familienpolitischen Leistungen müssen dringend zu einer einzigen Leistung gebündelt werden: der Kindergrundsicherung. Wichtig ist, dass die Kindergrundsicherung das Existenzminimum von Kindern absichert sowie unbürokratisch und automatisiert an die Familien ausgezahlt wird.
Wir begrüßen sehr, dass die Bundesregierung bereits an der Einführung einer Kindergrundsicherung arbeitet. Der VdK appelliert mit Nachdruck an die Ampel-Koalition, bei den Verhandlungen im Sinne der Kinder mutig zu sein und an die Zukunft zu denken. Eine nachhaltige Investition in die Entwicklung und Gesundheit der Kinder darf nicht am Rechenschieber entschieden werden. Es ist allerhöchste Zeit, Kinderarmut wirksamer zu bekämpfen. Das sollte der Gesellschaft jeden Cent wert sein.“
Der Sozialverband Deutschland (SoVD) in Niedersachsen betrachtet dies mit großer Sorge und drängt nicht nur auf die schnelle Einführung einer Kindergrundsicherung, sondern auch auf die dringend notwendige Schaffung von Angeboten im Freizeitbereich.
Mehr als 22 Prozent aller Menschen unter 18 sind in Niedersachsen von Armut bedroht. Damit liegt das Bundesland sogar über dem Bundesdurchschnitt von 20,8 Prozent. „Es ist wirklich beschämend, dass in Niedersachsen so viele Kinder und Jugendliche, in Armut abzurutschen drohen. Sie werden damit systematisch bei Bildung und insgesamt bei der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt“, so Bernhard Sackarendt, Landesvorsitzender des SoVD in Niedersachsen. Die Zahlen der Bertelsmann Stiftung zeigten außerdem, dass sich diese Armut zunehmend verfestige. „Kinder und Jugendliche befinden sich nicht nur über einen kurzen Zeitraum in dieser prekären Situation, sondern meistens über einen Zeitraum von mindestens fünf Jahren. Das ist brandgefährlich, denn diese andauernde Phase prägt sie für ihr ganzes Leben. Von Chancengleichheit kann dann keine Rede mehr sein“, betont Sackarendt.
Deshalb macht sich der SoVD bereits seit langem für eine schnelle Einführung der Kindergrundsicherung stark. „Diese ist wirklich längst überfällig“, sagt der Landesvorsitzende. Es gebe zwar einige Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket, diese werden aber zu selten abgerufen. „Das liegt aber nicht daran, dass kein Bedarf besteht. Aus unserer Beratung wissen wir, dass die Antragstellung und die Leistungen viel zu kompliziert sind, da blickt kaum noch jemand durch. Das muss unbedingt vereinfacht werden“, betont er.
Außerdem sieht Niedersachsens größter Sozialverband auch die Landesregierung in der Pflicht: „Es darf nicht nur um das Finanzielle gehen. Das Land muss auch dafür sorgen, dass es mehr Angebote in den Bereichen Sport, Musik und Kultur gibt, die von den betroffenen Kindern und Jugendlichen einfach und unkompliziert genutzt werden können“, fordert Sackarendt.