Regelbedarf für Grundsicherungsbeziehende immer noch viel Kritik
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Wenn es um die Höhe von Grundsicherung oder Arbeitslosengeld II geht, so werden sich Verbände, Parteien und insbesondere die SPD mit selbigen, wohl nie einig. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) macht genau das vor, was immer wieder für Kritik sorgt und das nicht nur innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, sondern sogar seitens der UN. Im Punkt 46 der Kritik der UN (E/C.12/DEU/CO/6 vom 27. November 2018) heißt es: "Der Ausschuss ist besorgt darüber, dass die Höhe der sozialen Grundleistungen nicht ausreicht, um den Empfängern und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen. Sie ist auch besorgt über die Berechnungsmethode des Existenzminimums, die auf einer Stichprobenerhebung über die Ausgaben der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen beruht und einige Grundkosten ausschließt."
Mit dieser Meinung scheint die UN (Vereinten Nationen) nicht ganz alleine da zu stehen. Sven Lehmann vom Bündnis 90/Die Grünen äußerte sich zur aktuellen Debatte zu den höheren Hartz-IV Regelsätzen: "Wir Grüne haben bereits im Sommer ein eigenes Konzept der Regelsatzermittlung vorgelegt und schlagen eine Anhebung des Regelsatzes für Erwachsene auf schrittweise 603 Euro vor. Die Bundesregierung geht bei der Ermittlung der Regelsätze fahrlässig vor. Den Regelsatz für Erwachsene drückt sie allein durch nachträgliche Streichungen von Ausgabenpositionen um rund 160 Euro nach unten und auch bei den Kindern und Jugendlichen legt sie hier den Rotstift an und kürzt bis zu rund 96 Euro. Damit drängt sie Menschen in Hartz IV und arme Rentnerinnen und Rentner ins soziale Abseits und nimmt in Kauf, dass der Regelsatz nicht zum Leben reicht. Wir werden unser Konzept für existenz- und teilhabesichernde Regelsätze als Alternative zum Vorgehen der Bundesregierung in den Bundestag als Antrag einbringen."
Ein ganz bitterer Beigeschmack entsteht, wenn Stephan Stracke (CSU) in einer Pressemitteilung schreibt: "Existenzminimum in Deutschland steigt" - Klingt, als wenn Existenzminimum ein politisch geprägter Begriff ist und nichts mehr damit zu tun hat, was ein Mensch benötigt, um überhaupt in Deutschland leben zu können und, das wird leider immer wieder vergessen, um auch seine Grundrechte umsetzen zu können, wird seitens der Regierung zu gerne vergessen, dass auch Grundrechte gewisse finanzielle Mittel bedürfen, um überhaupt umgesetzt werden zu können. Wenn Herr Stracke weiter darstellt: "Deutschland hat einen starken und leistungsfähigen Sozialstaat. Das hat sich nicht zuletzt in der aktuellen Corona-Pandemie gezeigt. Für uns gilt: Wer in Deutschland in eine Notlage gerät und nicht selbst für seinen Unterhalt sorgen kann, hat Anspruch auf staatliche Leistungen.", mag man diesem sicherlich zustimmen. Doch dann kommt auch gleich die Rechtfertigung: "Die Menschen in unserem Land können sich auf unseren Sozialstaat verlassen. Dabei ist das staatlich garantierte Existenzminimum in Deutschland nicht das Ergebnis eines politischen Überbietungswettbewerbs, sondern bemisst sich nach einem gesetzlich normierten methodischen Verfahren. Dieses Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht eingehend geprüft und Mitte 2014 als verfassungsgemäß beurteilt." - Genau bei den "gesetzlich norminierten methodischen Verfahren" scheint es unterschiedliche Wahrnehmungen zu geben.
Betrachten wir aber noch mal die "Grundrechte" oder jene, die eigentlich schon in der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben sind und derer Umsetzung sich Deutschland bemüht. Ein Anfang ist das Bundesteilhabegesetz, inhaltlich ausgelegt auf Menschen mit Behinderungen, die noch erwerbsfähig sind. Aber das war es fast schon, denn andere Grundrechte wie das Recht auf Freizeitaktivitäten, soziale Kontakte, politische Aktivitäten oder das Recht auf Information. Für viele von Grundsicherung kaum oder gar nicht finanzierbar.
Besondere Kritik kommt von der Fraktion "Die Linke", die sich mit der Thematik näher befasst hat und kritisiert dabei insbesondere die "Kleinrechnerei" der Regelsätze. „Wenn man nur die offensichtlichsten Rechentricks der Bundesregierung eliminiert, liegt der Regelbedarf bei Hartz IV und anderen Formen der Grundsicherung für 2021 bei 658 Euro plus Stromkosten. Sozialminister Hubertus Heil muss endlich aufhören, die Regelsätze gezielt klein zurechnen und Menschen dadurch in Armut und Vereinsamung zu treiben“, erklärt Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE und Ko-Parteivorsitzende, zu der von der Fraktion vorgenommenen Berechnung des Regelbedarfs bei den Grundsicherungen für 2021. Kipping weiter: „Seit Jahren rechnet die Bundesregierung die Regelsätze für Hartz IV und andere Grundsicherungen mit vielen Rechentricks klein. Abgeleitet werden sie anhand einer Stichprobe von Ausgaben von Einkommensarmen und materiell Unterversorgten, den unteren 15 Prozent der Bevölkerung gemessen am Einkommen. Dabei werden zwar Grundsicherungsbeziehende nicht in diese Stichprobe einbezogen werden, wohl aber verdeckt Arme, Personen, die weniger Einkommen als Ausgaben haben, und Personen, die geringe Erwerbseinkommen haben und diese mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. Außerdem werden viele statistisch erfasste Ausgaben dieser Personengruppe als nicht regelbedarfsrelevant eingestuft und somit nicht berücksichtigt. Im Ergebnis kommt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales so zu einem Bedarf von Ein-Personenhaushalten von lediglich 446 Euro.“
Bei einer Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze von derzeit 432 Euro auf 644 Euro (für alleinlebende Erwachsene) wäre nicht nur den Betroffenen in ihrer Not wirksam geholfen, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht Einkommensarmut in Deutschland faktisch abgeschafft, so der Paritätische Gesamtverband. Weiter stellt dieser dar:
Die Paritätische Forschungsstelle rechnet in einer aktuellen Expertise die umstrittenen und auch bereits von anderen Sozialverbänden und den Fraktionen DIE LINKE und Bündnis 90/ Die Grünen kritisierten statistischen Manipulationen im Regelsatz heraus und schlägt eine neue Struktur des Regelbedarfes in der Grundsicherung vor. Die direkten Mehrkosten zur Umsetzung des Vorschlags werden auf 14,5 Milliarden Euro geschätzt.
Die von der Bundesregierung derzeit geplante Erhöhung des Regelsatzes zum Jahreswechsel um lediglich 14 Euro sei viel zu niedrig, um auch nur annähernd bedarfsgerecht zu sein, kritisiert der Verband. „Die bisherigen Pläne der Bundesregierung zur Anpassung der Regelsätze haben nichts mit Armutsbekämpfung zu tun und auch nichts mit redlicher Statistik“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes. Würde auf statistische Tricksereien und Manipulationen verzichtet, käme auch die Bundesregierung zu deutlich höheren Ergebnissen, wie die vorliegende Studie belegt. „Die Bundesregierung muss endlich ihre umstrittenen Methoden der Regelbedarfsermittlung korrigieren und zu einem Verfahren finden, das sich an der Lebensrealität orientiert.“
Der Paritätische weist darauf hin, dass mit einem Regelsatz in Höhe von 644 Euro auch aus wissenschaftlicher Sicht die Einkommensarmut faktisch abgeschafft werde. „Die Armutsquote wäre praktisch null“, so Ulrich Schneider. „Es fehlt nicht an belastbaren Zahlen und Modellen. Was es braucht, ist den politischen Willen, Armut in diesem reichen Land wirklich zu verhindern.“
Der Paritätische fordert eine Anhebung des Regelsatzes für alleinlebende Erwachsene ab 1.1.2021 auf 644 Euro. Der Vorschlag des Verbandes sieht dabei insofern eine neue Regelbedarfs-Struktur vor, als dass so genannte „weiße Ware“ (Kühlschrank, Waschmaschine etc.) und Strom nicht mehr im Regelsatz pauschaliert erfasst werden, sondern als einmalige Leistung bzw. als Bestandteil der Kosten der Unterkunft gewährt werden. Die Mehrkosten der Regelsatzerhöhung werden auf 14,5 Mrd. Euro geschätzt. „14,5 Milliarden sollte es uns schon wert sein, die Armut in diesem Land abzuschaffen“, fordert Schneider. Eine Expertise " Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung (631 kb)" bietet der Paritätische als PDF zum Download an.
Eigentlich beantwortet all diese Kritik allerdings eine Kernfrage nicht: Warum nimmt die Regierung die Kritik nicht endlich an? Es geht, gerade bei der Grundsicherung nach Sozialgesetzbuch XII, schließlich um Menschen mit Behinderungen oder Rentner, die ihr Leben gearbeitet haben und eigentlich ihren Ruhestand nicht in Armut verbringen wollen. Auch für den arbeitssuchenden Hartz-IV Empfänger wäre die Aufstockung und Anpassung der Regelsätze an die Empfehlungen der Vereinten Nationen, mehr als erforderlich, da diese Menschengruppe durch Bewerbungskosten meist mit zusätzlichen Kosten belastet wird.
Autor: kk / © EU-Schwerbehinderung