Forderungen zur Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit im ÖPNV
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Barrierefreiheit ist ein immer wieder auftauchendes Thema und leider an vielen Orten schlecht umgesetzt, zumal Barrierefreiheit, je nach Art der Behinderung, unterschiedlich ausgelegt werden muss. Eines der großen Kernelemente die überhaupt erst die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht, ist die Mobilität.
Mobilität unterliegt dabei unterschiedlichen Bedürfnissen. Im Bezug auf den Personennahverkehr (ÖPNV) bedeutet Barrierefreiheit, die Möglichkeit diese auch ohne Hindernisse zu nutzen. Dabei spielt es keine Rolle, ob der behinderte Fahrgast durch kognitive Einschränkungen, Sinneseinstellungen oder durch körperliche Behinderungen den ÖPNV nutzen will. Barrierefreiheit im ÖPNV ist die uneingeschränkte Nutzungsmöglichkeit des ÖPNV, unabhängig von der Behinderung. Teilhabe nach der UN-Behindertenrechtskonvention ist nur möglich, wenn mobilitätseingeschränkter Personen den ÖPNV unabhängig ihrer Einschränkung nutzen können.
Die Praxis stellt Menschen mit Behinderungen allerdings immer wieder vor Herausforderungen. Sei es der fehlende Fahrstuhl, die fehlende Rampe, oder die entsprechenden Hilfseinrichtungen für Menschen mit einer Sinneseinschränkung.
Der Versuch hier die Betreiber in Schutz zu nehmen, da viele Bahnhöfe und Haltestellen oft alt, ja teilweise noch aus Vorkriegszeiten stammen, kann nicht die Lösung sein, denn spätestens mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hätte jedem ÖPNV Betreiber bewusst sein können, dass Teilhabe kein Luxus ist, sondern eine Selbstverständlichkeit. Dabei beschreibt eigentlich schon das Grundgesetz, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf und doch findet diese bei vielen Verkehrsbetrieben statt, denn Zeit für barrierefreie Umbaumaßnahmen gab es genug.
Es ist somit nicht verwunderlich, dass mehrere Verbände ( Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V. • Liga Selbstvertretung – DPO Deutschland • Netzwerk Artikel 3 • Deutscher Bahnkunden-Verband e. V., Bundesverband) seine gemeinsame Forderung unterzeichnet haben:
Zum Januar 2013 trat eine Änderung im Personenbeförderungsgesetz in Kraft, die in § 8 Absatz 3 den 1.1.2022 als Stichtag für die Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit vorsieht. 7 Jahre später, am Jahreswechsel von 2020 zu 2021 ist Deutschland von der Erfüllung meilenweit entfernt:
„Der Nahverkehrsplan hat die Belange der in ihrer Mobilität oder sensorisch eingeschränkten Menschen mit dem Ziel zu berücksichtigen, für die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs bis zum 1. Januar 2022 eine vollständige Barrierefreiheit zu erreichen. Die Frist gilt nicht, sofern in dem Nahverkehrsplan Ausnahmen konkret benannt und begründet werden.“
Diese Ausnahmeregelung wird der Regelfall ab 1.1.2022 werden. Bundesregierung, Länderministerien und Kommunen verweisen auf die Problematik der Finanzierung und fehlende Planungskapazitäten. Dieses Verweisen auf die Verantwortung jeweils anderer darf nicht weiter die Ursache dafür sein, dass Inklusion im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) eine Floskel bleibt. Alle Akteure auf allen Ebenen müssen ihre Verantwortung ernst nehmen.
- Die vollständige Barrierefreiheit bleibt ein wichtiges Ziel im ÖPNV.
Diesem Ziel müssen sich alle Akteure verpflichtet fühlen und den Abbau von Barrieren im ÖPNV mit Hochdruck vorantreiben Nach der Bundestagswahl im September 2021 sind alle Parteien aufgefordert, die vollständige Herstellung der Barrierefreiheit im ÖPNV (Stadtbus, Straßenbahn, U-Bahn) ernsthaft voranzutreiben. Dazu sind ausreichend Finanzmittel und Planungskapazitäten auf allen Verwaltungsebenen vorzuhalten. Bei der Planung sind die Interessensvertretungen der mobilitätseingeschränkten Fahrgäste zu beteiligen.
Die Bundesländer haben die Schritte zur Zielerreichung mit einer eigenen Gesetzgebung für ihren Zuständigkeitsbereich festzuschreiben. Sie berichten den Parlamenten und der Öffentlichkeit mit jährlichen Sachstandsberichten über den Fortschritt zum Abbau von Barrieren im ÖPNV. Dazu bedarf es einer erstmaligen Aufnahme des Zustandes aller Haltestellen, ihrer technischen und verkehrlichen Ausstattung sowie den zu ergreifenden Maßnahmen. Dieses öffentliche Register ist ständig zu aktualisieren.
Der Weg von der nicht vorhandenen über die eingeschränkte bis hin zur vollständigen Barrierefreiheit setzt einen langen Atem voraus. Kompromisse sind vielfach über Jahre hinweg notwendig. Dennoch muss es eine dauerhafte und spürbare Bewegung hin auf das Ziel der vollständigen Barrierefreiheit geben. - Finanzen für den Abbau der vorhandenen Barrieren sind den Kommunen im Rahmen der abgestimmten, konkreten Umbauplanung durch die Bundesländer zur Verfügung zu stellen
Den Kommunen werden durch ihr Bundesland die für den Abbau der Barrieren notwendigen Finanzen zur Verfügung gestellt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Gelder zweckgebunden verwendet werden. Eine zweckfremde Verwendung ist zu sanktionieren.
- Das Ziel „Barrierefreiheit für alle“ ist eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe. Deshalb sind Transparenz und Mitwirkung der Betroffenen bei Planung und Ausführung sicherzustellen
Wer weiß besser als die Betroffenen und ihre Verbände, wie die Nutzung des ÖPNV ohne Barrieren aussehen muss. Deshalb muss gewährleistet werden, dass ihre Meinung nicht nur gehört, sondern auch bei den Entscheidungen berücksichtigt wird. Maßstab dabei ist das Partizipationsgebot der UN-Behindertenrechtskonvention. Nichts über uns ohne uns. Barrierefreiheit muss nach der Definition des Behindertengleichstellungsgesetzes umgesetzt sein: Die Benutzung des ÖPNV muss grundsätzlich ohne fremde Hilfe möglich sein. Keine Zugänglichkeit durch Abhängigkeit!
Zur „Barrierefreiheit für alle“ gehört übertragen nach dem „Design für alle“:
• Fahrplanauskunft, Fahrtenplanung,
• Begleitung zur Haltestelle und auf der Fahrt,
• Orientierung im Haltestellenbereich, Vorhandensein und Standorte von infrastrukturellen Hilfestellungen (z. B. taktile Leitelemente, Lage von Unterständen,Rampen),
• Information über nutzbare und aktuell verfügbare Servicemöglichkeiten auf der Fahrt (Umsteigewege, Toiletten, Aufzüge, Rolltreppen),
• Vorhandensein von Assistenzpersonen, die Hilfestellungen beim Ein- und Ausstieg geben,
• Orientierung am Fahrzeug (beim Einsteigen) und im Fahrzeug (Sitz- und Stellplätze, Notrufknopf, Haltewunsch usw.),
• Kontaktmöglichkeiten für den unter 4. genannten Einheitlichen Ansprechpartner,
• frühestmögliche Berücksichtigung von zukünftigen Nutzerwünschen (z. B. Mitnahme von Dreirädern und E-Scootern). - „Vollständige Barrierefreiheit“ umfasst die gesamte Nutzung des ÖPNV in einer Nutzerkette – direkt und indirekt
Barrierefreiheit beginnt nicht erst mit dem Einstieg ins Fahrzeug. Sie bedeutet, dass bereits die Fahrplanauskunft und die Information über Beförderungsbestimmungen für alle ermöglicht werden muss. Dabei sind die Bedürfnisse an Information und Hilfestellung aller mobilitäts-, sinnes-, lern- und psychisch beeinträchtigter Menschen zu berücksichtigen.
Eine Nutzerkette bedeutet, dass das Zusammenstellen von notwendigen Informationen und Hilfestellungen in Echtzeit so einfach sein muss, dass die Inanspruchnahme in einer Anmeldung erfolgt. Das Durchfragen und Herumtelefonieren, weil manche Unternehmen Sonderregelungen haben, muss zum neuen Stichtag der Vergangenheit angehören. Bundesweit bedeutet dies einen Einheitlichen Ansprechpartner für den ÖPNV, der bei den Verbünden und Verkehrsunternehmen, Infrastrukturbetreibern und sonstigen Beteiligten Zugriff auf alle notwendigen Informationen hat, verlässlich Auskunft geben und Buchungen aufnehmen kann. Belange des Datenschutzes sind natürlich zu beachten. - Berücksichtigung der Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit bei neuen Gesetzesvorhaben
Für jedes eingebrachte Gesetz wird heute standardmäßig der finanzielle Aufwand („Erfüllungsaufwand“ und „weitere Kosten“) geprüft und beziffert. Eine solche Prüfung ist in Zukunft auch bei allen Gesetzen bezüglich der Zielerreichung der Herstellung der vollständigen Barrierefreiheit vorzunehmen.
Autor: kk / © EU-Schwerbehinderung