Bedrohung für die Pflegebedürftigen und für uns alle
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Der SoVD setzt sich schon lange für eine Pflegevollversicherung ein, so wie es Krankenkassen, Rentenkasse, gesetzliche Unfallkassen und Arbeitslosenversicherung sind. Uns ist dabei durchaus bewusst, dass es einer gesamtgesellschaftlichen Diskussion bedarf, wie der extrem hohe Finanzbedarf gedeckt werden kann. Dies trifft umso mehr zu, als der Kreis der Anspruchsberechtigten im Rahmen in einem solchen Maße ausgeweitet wurde, dass schon jetzt keine solide Finanzierung mehr möglich ist. Dennoch werden immer neue Ankündigungen in den Raum gestellt für mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung in der Pflege. Der Wille diese Ankündigungen zu realisieren ist bereits am nächsten Tag verflogen.
So lange Pflege eine Gelddruckmaschine für die privaten Anbieter ist, kann das Problem seriös und sozial nicht gelöst werden. Nunmehr zeigt sich durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes erneut, wie nachlässig mit den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen in der Vergangenheit umgegangen wurde und auch heute noch wird.
Jahrzehnte wurde zugelassen, dass Pflegende aus allen Teilen der Welt nach Deutschland vermittelt wurden und hier unter z.T. unwürdigen Verhältnissen eine sehr schwere, eine sehr wichtige Arbeit, verrichtet haben und es immer noch tun.
Wie in anderen Wirtschaftsbereichen leben wir alle in Deutschland auch hier auf Kosten der übrigen Welt. Das ist eine Schande.
Es ist deswegen sehr zu begrüßen, dass vom Bundesarbeitsgericht ein Urteil gefällt wurde, welches zunächst aufrüttelt, aber auch ratlos macht: In einem Grundsatzurteil hat dieses Gericht entschieden, dass nach Deutschland vermittelte ausländische Pflege- und Haushaltshilfen, die Pflegebedürftige in ihren Wohnungen betreuen, Anspruch auf Mindestlohn haben. Dies gelte auch für Bereitschaftszeiten, in denen sie Betreuung auf Abruf leisten.
Experten schätzen, dass zwischen 300.000 bis 600.000 ausländische Arbeitskräfte bei der Betreuung im häuslichen Bereich tätig sind - meistens Frauen aus ost- und mitteleuropäischen EU-Staaten und der Ukraine, die zum großen Teil für ihren 24 Stunden-Dienst einen Stundenlohn von unter 3 Euro erhalten, der auch durch freie Kost und freie Unterkunft nicht dem Mindestlohn entspricht.
Es ist nicht so, dass das Thema überraschend im Focus steht. Unter anderem hatte der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus, im Mai 2021 auf den dringenden Handlungsbedarf bei der 24-Stunden-Betreuung hingewiesen. "Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte", so Westerfellhaus damals in seinem Forderungskatalog. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem "Megathema der Politik" werden. Das benannte Megathema, welches aus Sicht des SoVD tatsächlich ein solches ist, wurde und wird aber von der Politik verdrängt. Ganz besonders jetzt in der Coronazeit, in der sich bei glücklicherweise, aber zu erwartenden rückläufigen Infektionszahlen die Diskussionen vordergründig um Events, Kneipenbesuche, Flugreisen und andere belanglose Dinge geht.
So gibt es im Gesundheitsministerium keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutz-Vorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern. Eine Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege wonach diese Arbeitsform nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, Pausen, Zusatzurlaub, Freizeit, Vergütung usw. möglich sein soll, was aber eben in Deutschland nicht gilt.
Der Ausbeutung ist somit legal Tür und Tor geöffnet.
Der SoVD fordert die Bundesregierung auf, tragfähige Konzepte zu entwickeln, wie der professionelle und materielle Bedarf für die Pflege in der Häuslichkeit zu decken ist. Wir fordern eine solidarische Pflegevollversicherung, in die alle Menschen in Deutschland einzahlen. Raum für private Zusatzversicherungen muss gewährt werden, aber die Pflegegrundversorgung muss für alle gleich gut abgesichert sein.
Die Wahlkampfzeit bietet viele Möglichkeiten mit Bewerbern um das höchste Ehrenamt der Republik, Abgeordneter im Deutschen Bundestag, auch dieses Thema zu diskutieren, die Frauen und Männer dafür zu sensibilisieren und sie aufzufordern, im Falle ihrer Wahl gesellschaftlich akzeptable Lösungen in Gesetzesform zu bringen.
Unser Land lebt über seine Verhältnisse. Leider arbeitet es nicht über seine Verhältnisse. Dabei wäre zur Lösung der vielen gesellschaftlichen Probleme eine gemeinsame Anstrengung aller, die erwerbstätig sein können, notwendig. Nicht nur zur Bewältigung der Folgen der Coronakrise sondern auch zur Lösung vieler anderer Probleme, die von verantwortlichen Politikern seit Jahren ignoriert werden. Der SoVD in Mecklenburg–Vorpommern fordert dazu eine gesamtgesellschaftliche zielorientierte Diskussion.
Autor: md / © EU-Schwerbehinderung