Bundesverfassungsgericht erklärt ärztliche Zwangsmaßnahmen teilweise für verfassungswidrig
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Das Bundesverfassungsgericht hat das ausnahmslose Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern als teils verfassungswidrig eingestuft. Laut dem Gericht, sei die betroffene gesetzliche Regelung mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht vollständig vereinbar. Gerichtspräsident Stephan Harbarth erklärte bei der Urteilsverkündung, dass ärztliche Zwangsbehandlungen nur unter strengen Bedingungen und als letztes Mittel zulässig seien. Bislang sah das Gesetz vor, dass solche Maßnahmen ausschließlich während eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchgeführt werden dürfen, um eine ausreichende medizinische Versorgung sicherzustellen.
Der Fall, der diesem Urteil zugrunde liegt, betrifft eine psychisch schwer erkrankte Person, die sich gegen die Zwangsbehandlung in einem Krankenhaus wehrte. Die betroffene Person lehnte eine ärztliche Behandlung ab, obwohl sie unter einer schweren psychischen Erkrankung litt und für ihre Gesundheitsvorsorge ein gesetzlicher Betreuer bestellt war. Der Betreuer hatte die Notwendigkeit der Zwangsbehandlung bestätigt, jedoch stellte sich die Frage, ob dies zwangsläufig in einem Krankenhaus durchgeführt werden müsse.
Der Bundesgerichtshof legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob der sogenannte Krankenhausvorbehalt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Verfassungsgericht bestätigte die Einschätzung des Bundesgerichtshofs und entschied, dass der Krankenhausvorbehalt nicht verhältnismäßig sei, wenn dadurch die körperliche Unversehrtheit der betroffenen Person erheblich gefährdet wird. Die Behandlung könne auch in Einrichtungen durchgeführt werden, die den gleichen medizinischen Standard wie ein Krankenhaus gewährleisten, ohne dass die Betroffene zusätzlich einem erheblichen Eingriff ausgesetzt wird.
Das Gericht verpflichtete den Gesetzgeber, bis Ende 2026 eine Neuregelung zu schaffen, die besser mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen vereinbar ist. Bis dahin bleibt die bisherige Regelung in Kraft, die jedoch in der Praxis auf das notwendige Maß an ärztlicher Zwangsbehandlung beschränkt werden muss.
Leitsätze zum Urteil des Ersten Senats vom 26. November 2024
- Ärztliche Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten in Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sind an strenge Voraussetzungen gebunden und nur als letztes Mittel zulässig.
- Die mit den fachrechtlichen Anforderungen an ärztliche Zwangsmaßnahmen verbundenen Eingriffe in das Grundrecht der nicht einwilligungsfähigen Betreuten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 GG unterliegen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung.
- Die Bindung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt in einem Krankenhaus mit näher bestimmtem Versorgungsniveau ist grundsätzlich zulässig.
- Die mit dem Krankenhausvorbehalt verfolgten Zwecke des Schutzes vor Zwangsmaßnahmen im privaten Wohnumfeld, der Prüfung der Voraussetzungen ärztlicher Zwangsmaßnahmen durch multiprofessionelle Teams, der Verhinderung von auf Fehlanreizen beruhendem Ergreifen nicht erforderlicher ärztlicher Zwangsmaßnahmen und der Sicherstellung einer angemessenen fachlichen Versorgung sind legitim und grundrechtlich fundiert.
- Eine ausnahmslose Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Krankenhausaufenthalt ist allerdings unangemessen. Eine Ausnahme ist geboten, soweit Betreuten im Einzelfall nach einer Betrachtung ex ante aufgrund der ausnahmslosen Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit drohen und zu erwarten ist, dass diese Beeinträchtigungen bei einer Durchführung in der Einrichtung, in der die Betreuten untergebracht sind und in welcher der Krankenhausstandard im Hinblick auf die konkret erforderliche medizinische Versorgung einschließlich der Nachversorgung voraussichtlich nahezu erreicht wird, vermieden oder jedenfalls signifikant reduziert werden können, ohne dass andere Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen grundrechtlich geschützten Position mit vergleichbarem Gewicht drohen.
Az.: 1 BvL 1/24