UN-Ausschuss veröffentlicht Empfehlungen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
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Am 28. und 29. August wurde in Genf von den Vereinten Nationen die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland einer Prüfung unterzogen. Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen veröffentlichte am 12. September 2023 seine vorläufigen Empfehlungen in einer Vorabversion bezüglich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Das Dokument in englischer Sprache hat 16 Seiten und trägt den Titel im Original vom 8. September 2023 den Titel "Concluding observations on the combined second and third periodic reports of Germany".
Die Ergebnisse umfassen die wesentlichen Anliegen und Empfehlungen des Ausschusses zur Umsetzung der Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie positive Aspekte.
Der Ausschuss äußerte sich besorgt über die mangelnde vollständige Umsetzung der inklusiven Bildung, die Verbreitung von Sonderschulen und -klassen sowie die vielen Hindernisse, mit denen Kinder mit Behinderungen und ihre Familien bei der Einschreibung in die Regelschule und deren Abschluss konfrontiert sind. Gemeinsam mit Organisationen von Menschen mit Behinderungen sollte ein Aktionsplan zur Unterstützung des Übergangs von Menschen mit Behinderungen aus Werkstätten für behinderte Menschen in den offenen Arbeitsmarkt entwickelt werden. Dieser Plan sollte Ressourcen und einen klaren Zeitplan für alle beteiligten Länder vorsehen. Er forderte Deutschland auf, einen umfassenden Plan zu entwickeln, um den Übergang von der Sonderschule zur inklusiven Bildung auf Länder- und kommunaler Ebene zu beschleunigen, mit konkreten Zeitrahmen, personeller, technischer und finanzieller Ressourcenzuweisung sowie klaren Verantwortlichkeiten für die Umsetzung und das Monitoring.
Er würdigt die Bemühungen des Staates Deutschland zur Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen seit den letzten abschließenden Bemerkungen im Jahr 2015, heißt es im Dokument vom Ausschuss. Insbesondere werden verschiedene gesetzgeberische und politische Maßnahmen hervorgehoben, die zur Förderung der Rechte von Menschen mit Behinderungen ergriffen wurden. Dazu zählen die Bundesinitiative für Barrierefreiheit im Jahr 2022, die Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Barrierefreiheit (BFSG) im Jahr 2021, die Reform des Vormundschaftsrechts für Kinder und Erwachsene im Jahr 2021, die Einführung des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Jahr 2021, die Berücksichtigung der Inklusion im Koalitionsvertrag von 2021 sowie die Verabschiedung des Gesetzes zum Schutz von Kindern mit Variationen in der Geschlechtsentwicklung im Jahr 2021. Diese Maßnahmen betonen das Engagement des Staates für die Rechte und die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und stellen einen wichtigen Schritt in Richtung einer inklusiveren Gesellschaft dar.
Dabei äußert er Besorgnis über die Anwendung eines medizinischen Modells von Behinderung in vielen Rechtsbereichen des Bundes und der Länder. Dies steht im Zusammenhang mit seinen früheren abschließenden Bemerkungen aus dem Jahr 2015. In diesem Kontext empfiehlt der Ausschuss dem Vertragsstaat dringend, die Definition von Behinderung in Bundes- und Landesgesetzen sowie -politiken mit den allgemeinen Prinzipien und Bestimmungen der Konvention in Einklang zu bringen, insbesondere hinsichtlich Nichtdiskriminierung und dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung.
Der Ausschuss gibt Empfehlungen ab, die unter anderem die Entwicklung von Strategien zur Stärkung des Engagements in allen Ressortbereichen der Regierung vorsehen, wie es in der Empfehlung des Ausschusses heißt. Das Ziel besteht darin, sicherzustellen, dass Behinderung als Querschnittsthema in sämtlichen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen anerkannt wird. Dies soll durch die effektive Integration von Maßnahmen im Zusammenhang mit Behinderungen in alle Rechtsbereiche erreicht werden. Eine systematische Überprüfung der Vereinbarkeit der bestehenden Gesetze, Politiken und Verwaltungspraktiken des Staates mit den Verpflichtungen aus der Konvention wird ebenfalls empfohlen. In diesem Kontext sollten menschenrechtsbasierte Aktionspläne entwickelt werden, die ein klares Verständnis von Behinderung beinhalten und angemessene Maßnahmen zur Förderung, zum Schutz und zur Verwirklichung der in der Konvention festgelegten Rechte vorsehen.
Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen hat unmissverständlich klargestellt, dass behinderte Menschen und ihre Verbände auch in Deutschland eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Politik und der Angebote für behinderte Menschen spielen müssen. „Wie ein roter Faden zieht sich der Ruf nach einer guten und mit ausreichenden Ressourcen unterlegten Partizipation behinderter Menschen und ihrer Verbände bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Abschließenden Bemerkungen des UN-Ausschusses zur Staatenprüfung Deutschlands. Der Slogan ‚Nichts über uns ohne uns‘ muss also endlich auch in Deutschland umfassend ernst genommen werden, um echte Inklusion zu erreichen“, erklärte Ottmar Miles-Paul, Sprecher der LIGA Selbstvertretung. Am 12. September 2023 hat der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen die Concluding Observations (Abschließende Bemerkungen) als Ergebnis der Staatenprüfung und als Anforderungen für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland veröffentlicht.
Nach Ansicht der LIGA Selbstvertretung als Interessenvertretung von bundesweit aktiven Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen muss Deutschland nach diesen Schlussfolgerungen des UN-Ausschusses endlich Vorbild in Sachen Inklusion und bei der Partizipation behinderter Menschen werden. Dies hätten die Beratungen während der Staatenprüfung Deutschlands am 29. und 30. August mehr als deutlich gemacht. „Nach den vielen Versäumnissen, beispielsweise bei der Inklusion im schulischen Bereich, beim Wohnen, bei der Herstellung von Barrierefreiheit und im Bereich inklusiver Arbeit, muss Deutschland mit der nun erfolgten zweiten Staatenprüfung nach 2015 einen Aufbruch zur inklusiven Gesellschaft vorantreiben. Wir müssen endlich eine internationale Vorbildrolle in Sachen Achtung der Menschenrechte behinderter Menschen und bei der Barrierefreiheit einnehmen. Darauf warten nicht nur viele behinderte Menschen, sondern auch ihre Angehörigen und all diejenigen, die von einer inklusiven Gesellschaft profitieren – nämlich fast alle“, betonte Ottmar Miles-Paul. Das Leben vieler behinderter Menschen in Deutschland wird nach Ansicht der LIGA Selbstvertretung immer noch von vielfältigen Barrieren geprägt, die ihnen den Zugang zu vielen Angeboten verwehren oder erschweren. „Deshalb müssen endlich die im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP vorgesehenen behindertenpolitischen Maßnahmen angepackt und konsequent umgesetzt werden“, fordert Ottmar Miles-Paul.
Zudem ist der hohe Grad der Institutionalisierung in Förderschulen, besonderen Wohnformen und in Werkstätten für behinderte Menschen ein zentrales Hemmnis für ein inklusiven Miteinander in den Gemeinden und Städten. „Auch hier hat der UN-Ausschuss in Sachen Deinstitutionalisierung klare Ansagen gemacht und konsequente Strategien und Maßnahmen eingefordert. Die Exklusionskette von der Förderschule in die spezielle Werkstatt und das Wohnheim für behinderte Menschen muss endlich auch in Deutschland durch inklusive Angebote für ein Leben mittendrin in der Gesellschaft durchbrochen werden“, fordert Ottmar Miles-Paul. „Inklusion ist ein Menschenrecht, das gilt auch in Deutschland und das hat der UN-Ausschuss eindeutig klargestellt.“
Bei all den zukünftigen Maßnahmen, die ergriffen werden, müsse das Motto der internationalen Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ eine zentrale Rolle spielen. Denn in der Vergangenheit wurde sehr viel über die Köpfe behinderter Menschen und ihren Interessenvertretungen hinweg entschieden. „Die Folge ist ein System, an dem zwar viele verdienen, das aber behinderte Menschen immer wieder massiv in ihrer Selbstbestimmung und in ihren Menschenrechten beschneidet. Deshalb müssen behinderte Menschen und ihre Verbände frühzeitig bei allen Maßnahmen beteiligt und ihre Stimme vor allem auch ernst genommen werden“, fordert der Sprecher der LIGA Selbstvertretung Ottmar Miles-Paul.
Diese Aktionspläne sollten klare Ziele und Indikatoren zur Überwachung der Umsetzung der Konvention beinhalten, wie bereits in den abschließenden Bemerkungen von 2015 empfohlen wurde. Das Englisch sprachige Worddokument finden sie hier.