Diabetes mellitus kann zu einer Schwerbehinderung führen
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Nachdem die „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ vor einigen Jahren im Blick auf die Bewertung der Zuckerkrankheit im Schwerbehindertenrecht reformiert wurden, haben es Betroffene eines Diabetes mellitus schwerer, eine Behinderteneigenschaft zuerkannt zu bekommen. Dennoch seien auch weiterhin Möglichkeiten gegeben, beim Versorgungsamt mit einem entsprechenden Antrag erfolgreich zu sein. Diese Ansicht vertritt der Leiter der Zucker-Selbsthilfe, Dennis Riehle (Konstanz). Wie der Sozialberater in einer aktuellen Aussendung anmerkt, seien dafür aber Mitwirkungspflichten durch den Patienten zu erfüllen. „Generell kann bei leichten Verlaufsformen nach gültiger Rechtsprechung davon ausgegangen werden, dass ein sogenannter ‚Grad der Behinderung‘ (GdB) von 0 bei nicht-behandlungsbedürftiger Glukosetoleranz festgestellt wird, bei einer zumindest oral-medikamentös therapiewürdigen Diabetes-Erkrankung in Höhe von 20. Dieser trifft eine Aussage darüber, ob und in welchem Umfang Erkrankte zum Beispiel Steuererleichterungen, Unterstützung am Arbeitsplatz oder mögliche Fahrtkostenpauschalen geltend machen können. Auf der zwischen 0 und 100 festgelegten Skala gilt ein Mensch im Sinne des SGB IX bereits ab einem Wert von 20 als ‚behindert‘, ab 50 dann letztlich auch als ‚schwerbehindert‘ mit dem Anspruch auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises zum Nachweis für mögliche Rechte. Bevorteilungen sind auch bei einem Wert von 30 und 40 schon möglich, arbeitsrechtlich ist dann eine Gleichstellung im Job als Schwerbehinderter denkbar und damit verbunden ein besserer Kündigungsschutz, bevorzugte Einstellung oder ein Mehrurlaub. Und auch mit GdB 20 können bereits verschiedene Steuernachlässe erfolgen“, erläutert der 37-jährige Dennis Riehle.
Er selbst ist seit 2014 an Diabetes mellitus erkrankt und hat mittlerweile viele hundert Betroffene im Rahmen der Selbsthilfe beraten: „Der GdB wird auf Antrag vom Versorgungsamt anhand der jeweiligen Aktenlage festgelegt. Eine persönliche Begutachtung durch den Sachbearbeiter erfolgt in der Regel also dabei nicht. Das Verfahren ist für den Betroffenen unabhängig des Ausgangs kostenfrei. Gegen den Bescheid ist Widerspruch möglich. Regelhaft wird bei Vorliegen einer Diabetes-Erkrankung eine abgestufte Einschätzung vorgenommen. Das heißt grundsätzlich: Zunächst wird der die Zuckererkrankung mit ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag des Betroffenen bewertet. Dabei kann dann – in Einklang mit den sogenannten ‚Versorgungsmedizinischen Grundsätzen‘ – ein GdB bis maximal 50 bei isoliertem Diabetes unter mehrfacher täglicher Insulingabe, Messungen, Ernährungsumstellung, Einschnitten in die Lebensführung und individuelle Beurteilung der täglichen Stoffwechsellage attestiert werden. Allerdings gehen syndromale Bilder wie der Diabetes weit über die endokrine Schiene hinaus und müssen daher in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Handelt es sich um ein chronifiziertes und schwer verlaufendes Krankheitsbild sind auch Ergebnisse jenseits von 50 durchaus möglich. Denn die Bewertung orientiert sich an den „funktionellen Auswirkungen“. Das bedeutet, dass nicht die Diagnose an sich aussagekräftig ist, sondern die Symptome (welche im Schwerbehindertenrechts als „Funktionsstörungen“ bezeichnet werden). Schlussendlich heißt das, es müssen alle betroffenen Systeme des Körpers betrachtet werden: Beispielsweise kommen zu den endokrinen Beschwerden auch neurologische Ausfälle, Beteiligungen der inneren Organe (vor allem Niere), Augenschäden, Angiopathien (Gefäßerkrankungen), Osteoporose, psychische Instabilität, entgleister Stoffwechsel, diabetisches Fußsyndrom Hörstörungen und Zahnfleisch- und Mundprobleme in Betracht“, führt der Psychologische und Ernährungsberater aus seiner eigenen Krankheitserfahrung hierzu aus.
„Sind also über den bloßen Diabetes hinaus gehende Störungen in weiteren Funktionsbereichen vorhanden, kann der Einzel-GdB um bis zu 20 erhöht werden – sofern sich beide Leistungsbeeinträchtigungen nicht ohnehin schon wechselseitig beeinflussen und damit durch den Ursprungs-GdB ausreichend berücksichtigt sind. Beispielhaft kann bei einem schwer behandelbaren Diabetes mit Einzel-GdB von 50 und einem kompensierten nephrotischen Syndrom (Nierenschädigung ohne Wassereinlagerung) mit Einzel-GdB von 30 schlussendlich ein Gesamt-GdB von 70 stehen. Liegen exemplarisch bei einem beträchtlichen Diabetes mit GdB 40 auch noch deutliche Augenhintergrundveränderungen einem eigenen Einzel-GdB von 20 sowie eine mäßig sensorische Polyneuropathie mit einem Einzel-GdB von ebenfalls 20 vor, welche jeweils eine eigene Kategorie darstellen und mit den Beeinträchtigungen durch die grundlegende Problematik nicht hinreichend abgegolten sind, kann sich ein Gesamt-GdB von 60 ergeben. Dieser wird nämlich nicht durch das bloße Addieren der Einzelwerte gebildet. Stattdessen ist auch hier die Krankheit mit dem höchsten Einzel-GdB wegweisend, zu dem bei erheblichen Begleiterkrankungen oder dem Hinzukommen von Störungsbildern aus anderen Körper- und Funktionsbereichen ein meist maximaler Aufschlag von bis zu 20 erfolgen kann, woraus sich letztlich der Gesamt-GdB ergibt. Zudem muss beachtet werden, dass bei Vorliegen mehrerer Erkrankungen aus den jeweiligen Einzel-GdB ein Gesamtgrad der Behinderung entsteht. Entscheidend ist immer das komplette Bild der Funktionsbeeinträchtigung“, sagt Dennis Riehle, der vor allem an die Bereitschaft zur Mitarbeit des Patienten appelliert und aufruft, unbedingt ein Diabetes-Tagebuch zu führen, in dem die Ergebnisse der täglichen Zuckermessung, die jeweilige Insulingabe und die Einnahme von möglichen Tabletten zuverlässig dokumentiert werden.
„Zudem ist es beim Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auch nicht ausreichend genug, wenn ärztlicherseits eine Diagnose nach den geltenden Kriterien festgestellt und attestiert wird. Viel eher muss daneben ergänzend bescheinigt werden, inwiefern konkrete Einschränkungen der Alltags- und Lebensqualität vorliegen und welche Funktionssysteme des Körpers und der Psyche in welchem Ausmaß explizit betroffen sind. Oftmals scheitert der Ausgang im Verfahren an der ungenügenden Beschreibung dieser Beeinträchtigungen durch den behandelnden Facharzt. Patienten sollten insofern stets darauf abheben und bestehen, dass die Befunde nicht nur einen ICD-10-Code ausweisen. Bedeutsamer ist eher die klare Darlegung, welche Konsequenzen die Krankheit hat. Empfehlenswert ist daher auch, dass die Betroffenen ihrem Antrag an das Versorgungsamt einen eigenen Erfahrungsbericht beifügen, in welchem auch sie nochmals bildlich festhalten, in welchen Lebensbereichen und Funktionssystemen Probleme bestehen. Orientierend hilft dabei die Frage: Was kann ich heute nicht mehr (so gut) wie vor Manifestation der Krankheit? Was beeinträchtigt mich im Alltag? Wo habe ich im Vergleich zum Gesunden Mehrbedarf? Der Schwerbehindertenausweis dient am Ende zur Inanspruchnahme und Durchsetzung zusätzlicher Rechte, welche sich auf die Steuerlast, die Nachteilsausgleiche im Beruf, Grundlagen für weitere sozialrechtliche Ansprüche (beispielsweise bei späterem Eintritt einer eventuellen Pflegebedürftigkeit), Vergünstigungen im Alltag oder Sozialtarife auswirken. Gleichzeitig ist die Inanspruchnahme der Schwerbehinderteneigenschaft eine im sozialen Rechtsstaat allen Hilfsbedürftigen zustehende Anerkennung ihrer Benachteiligungen, letztendlich gibt es keinerlei Grund, sich dafür schämen zu müssen. Ganz im Gegenteil: Immerhin kann das eigene Bekenntnis zu einem Anderssein auch einen positiven Effekt auf unser Selbstbild haben und daneben ebenso einen psychologischen Mehrwert besitzen. Faktische Diskriminierungen durch eine ausgewiesene Schwerbehinderung sind weder gegenüber Versicherungen, Arbeitgebern oder öffentlichen Stellen zu befürchten“, erklärt Dennis Riehle abschließend und ermutigt Betroffene, ihre Nachteilsausgleiche bei der Kommunalverwaltung zu beantragen.
Autor: Dennis Riehle
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